Massenentlassung

 

BAG: Massenentlassungsanzeige auch bei fehlenden Soll-Angaben wirksam

Bei Personalabbaumaßnamen, bei denen die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG für Entlassungen überschritten werden, haben Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigungen und vor Abschluss von Aufhebungsverträgen u.a. das in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigeverfahren gegenüber der Agentur für Arbeit durchzuführen. Bei Unternehmen mit Betriebsrat bedarf es zudem der Durchführung des separaten Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG. Das Konsultationsverfahren und das Anzeigeverfahren stellen jeweils eigenständige Wirksamkeitserfordernisse für die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung ausgesprochenen Kündigungen bzw. abgeschlossenen Aufhebungsverträge dar. Das vollständige Fehlen des Konsultations- oder Anzeigeverfahrens führt zur Unwirksamkeit der Kündigungen bzw. Aufhebungsverträge. Diese für Arbeitgeber gravierende Rechtsfolge tritt regelmäßig auch bei einem nicht ordnungsgemäß mit dem Betriebsrat durchgeführten Konsultationsverfahren und einer nicht wirksam erstatteten Massenentlassungsanzeige wie bspw. im Falle einer Anzeige bei der unzuständigen Agentur für Arbeit, im Falle der Nichtbeifügung der Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG, der Nichtglaubhaftmachung der Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG oder im Falle von Fehlern hinsichtlich der „Muss-Angaben“ des § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG ein.

 

Entscheidung des BAG

Mit der Frage, ob auch Fehler im Anzeigeverfahren im Hinblick auf die sog. „Soll-Angaben“ des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG, d.h. Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit, zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und damit zur Unwirksamkeit der Kündigungen nach § 134 BGB führen, hatte sich das BAG (Urt. v. 19.05.2022 – 2 AZR 467/21) in einem aktuellen Fall zu befassen. Die Vorinstanz (Hessisches Landesarbeitsgericht, Urt. v. 18.06.2021 – 14 Sa 1228/20) hatte der Kündigungsschutzklage der Klägerin mit der Begründung stattgegeben, dass aufgrund der unstreitig fehlenden Soll-Angaben die Massenentlassungsanzeige wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG unwirksam und damit die Kündigung gemäß § 134 BGB nichtig sei.

Das BAG hat das Berufungsurteil aufgehoben, in der Sache an das LAG zurückverwiesen und die für die Praxis wichtige Entscheidung getroffen, dass

das Fehlen der Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG für sich genommen nicht zur Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers gegenüber der Agentur für Arbeit führt.

Zur Begründung hat das BAG – in der bislang nur als Pressemitteilung vorliegenden Entscheidung – ausgeführt, dass die Kündigung nicht nach § 134 BGB nichtig sei, weil die Beklagte nicht zuvor gegenüber der Agentur für Arbeit die Angaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG gemacht habe. Ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG führe nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige. Über diese gesetzgeberische Entscheidung dürften sich die nationalen Gerichte nicht im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung hinwegsetzen. Eine solche sei auch nicht geboten. Durch die Rechtsprechung des EuGH sei geklärt, dass die in § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG vorgesehenen Angaben nicht gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 der Richtlinie 98/59/EG in der Anzeige enthalten sein müssen.

 

fellaws Hinweis

Die begrüßenswerte Entscheidung des BAG führt in diesem für die Praxis wichtigen Punkt (wieder) zur Rechtssicherheit für Arbeitgeber. Es bleibt dabei: die Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG, d.h. Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit, bleiben für Unternehmen freiwillig und deren Nichtangabe führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen bzw. Aufhebungsverträge. Es bleibt jedoch auch dabei, dass Arbeitgeber bei beabsichtigten Massenentlassungen angesichts der gravierenden Folgen eines fehlerhaften Konsultations- und Anzeigeverfahrens größte Sorgfalt auf deren Planung und auf deren rechtzeitige, ordnungsgemäße und rechtskonforme Durchführung legen sollten. Zu beachten gilt, dass Mängel bei der Massenentlassungsanzeige und beim Konsultationsverfahren auch nicht durch ein Bestätigungsschreiben oder einen späteren Bescheid der Agentur für Arbeit geheilt werden; die Arbeitsgerichtsbarkeit ist nicht daran gehindert, die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige festzustellen (vgl. BAG, Urt. v. 13.02.2020 – 6 AZR 146/19). Da das Recht der Massenentlassung nach den §§ 17, 18 KSchG in Verbindung mit dem Unionsrecht maßgeblich durch die Rechtsprechung des BAG und des EuGH geprägt ist, empfiehlt es sich, stets die aktuelle Rechtsprechung genau im Blick zu behalten. Aktuell ist vor allem die äußerst relevante Frage, ob ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zur Nichtigkeit einer Kündigung führt, vom BAG dem EuGH vorgelegt worden (BAG, Vorlagebeschl. v. 27.01.2022 – 6 AZR 155/21 (A)). Solange diese Frage höchstrichterlich nicht geklärt ist, sollten Arbeitgeber gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG der Agentur für Arbeit immer eine Abschrift der schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrats gemäß §17 Abs. 2 S. 1 KSchG übermitteln.

Carsten Brachmann
Rechtsanwalt I Fachanwalt für Arbeitsrecht I Partner



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